Antidepressiva
Beschreibung
Je nach Präparat wirken Antidepressiva stimmungsverbessernd, angstlösend, beruhigend, antriebssteigernd oder auch antriebsdämpfend. Am häufigsten werden sie bei der Behandlung von Depressionen eingesetzt. Wegen ihrer stimmungsaufhellenden und angstlösenden Wirkung werden sie jedoch auch bei Angststörungen wie Phobien, der generalisierten Angststörung und der Panikstörung, bei Zwangsstörungen und bei der Posttraumatischen Belastungsstörung verordnet. Bei diesen Störungsbildern werden bevorzugt neuere Antidepressiva aus der Gruppe der SSRI (siehe unten) eingesetzt. Weitere Anwendungsgebiete von Antidepressiva sind Essstörungen, chronische Schmerzen und Schlafstörungen.
Antidepressiva beeinflussen den Stoffwechsel der Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin im Gehirn. Die meisten Antidepressiva wirken, indem sie nach Ausschüttung der Botenstoffe ihre Wiederaufnahme in die Speicher der „Senderzelle“ (der präsynaptischen Nervenzelle) verhindern. Dies bezeichnet man auch als „Wiederaufnahmehemmung“. Eine verfrühte oder zu starke Wiederaufnahme in der Senderzelle führt fälschlicherweise zu einer zu geringen Ausschüttung der Botenstoffe. Mittels Wiederaufnahmehemmung wird der sendenden Zelle vorgetäuscht, sie habe noch nicht genügend Botenstoffe produziert. Dadurch wird die Erzeugung nicht vorzeitig beendet. Die Botenstoffe können sich jetzt vielmehr im synaptischen Spalt zwischen den Nervenzellen anreichern und so eine stärkere Wirkung an der „Empfängerzelle“ (der postsynaptischen Nervenzelle) entfalten.
Arten von Antidepressiva
Man unterscheidet zwischen neueren Antidepressiva, die weniger Nebenwirkungen haben, und älteren Antidepressiva, die mehr Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Substanzen aufweisen. Zudem wirken ältere Antidepressiva schnell toxisch, das heißt, sie können bei einer Überdosierung schnell zu Vergiftungserscheinungen bis hin zum Tod führen. Daher gelten die neueren Antidepressiva heute als Medikamente der ersten Wahl. Ältere Antidepressiva werden meist nur in speziellen Fällen oder wenn andere Medikamente keine Wirksamkeit gezeigt haben, eingesetzt.
Neuere Antidepressiva
1. Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI)
SSRI gelten heute bei Depressionen als Medikamente der ersten Wahl und werden auch am häufigsten verordnet. Häufig werden sie auch bei Angst- und Zwangsstörungen eingesetzt.
Wichtig ist, dass SSRI mindestens zwei bis drei Wochen eingenommen werden müssen, bevor sich die volle Wirkung entfaltet. In manchen Fällen vergehen auch sechs bis acht Wochen, bis die volle Wirkung eintritt. Dies bedeutet, dass Patienten bei der Einnahme Geduld aufbringen müssen und das Medikament nicht in der Annahme, es würde nicht helfen, vorzeitig wieder absetzen sollten.
Die Nebenwirkungen bei SSRI sind meist schwächer und weniger vielfältig als bei älteren Antidepressiva. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Beschwerden des Magen-Darm-Trakts, wie Übelkeit oder Durchfall, und sexuelle Funktionsstörungen. Da die meisten SSRI antriebssteigernd wirken, können zu Beginn der Behandlung Nervosität, Unruhe und Schlafstörungen auftreten. Die meisten Nebenwirkungen treten vor allem am Anfang der Behandlung auf und gehen mit der Zeit wieder zurück.
2. Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSNRI)
SSNRI sind etwa ebenso wirksam wie die SSRI und werden in bestimmten Fällen bei Depressionen eingesetzt. Sie hemmen gleichzeitig die Wiederaufnahme der Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin. Die häufigsten Nebenwirkungen bei SSNRI sind Blutdruckanstieg, Unruhe und Magen-Darm-Beschwerden.
3. Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI)
SNRI haben in Studien eine vergleichsweise geringe Wirksamkeit gezeigt und werden deshalb eher selten verordnet. Sie wirken sich auf die Wiederaufnahme des Botenstoffs Noradrenalin aus.
4. Dual-serotonerge Antidepressiva (Serotonin-Antagonist- und Wiederaufnahme-Hemmer, SARI)
Diese Medikamente wirken neben ihrem antidepressiven Effekt auch beruhigend. SARI hemmen die Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt und blockieren gleichzeitig einen bestimmten Serotonin-Rezeptor, der mit Angst, Unruhe und Schlaflosigkeit in Verbindung gebracht wird.
5. Selektive Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahme-Hemmer (NDRI)
NDRI werden vor allem bei Depressionen mit Antriebsschwäche eingesetzt. Sie hemmen die Wiederaufnahme der Botenstoffe Noradrenalin und Dopamin. Es wird jedoch diskutiert, ob diese Medikamente zu Abhängigkeit führen.
Ältere Antidepressiva
1. Trizyklische und nicht-trizyklische Antidepressiva
Trizyklische und nicht-trizyklische Antidepressiva wirken weniger selektiv als die neueren Antidepressiva, weil sie in mehrere Neurotransmitter-Systeme gleichzeitig eingreifen. Daher treten hier meist mehr und stärkere Nebenwirkungen auf.
Häufige Nebenwirkungen sind Mundtrockenheit, Müdigkeit, Verstopfung, Kreislaufstörungen, Schwindel und Herzrhythmusstörungen. Allerdings bilden sich viele Nebenwirkungen auch hier im Lauf der Behandlung wieder zurück. Um mögliche seltene, jedoch schwerwiegende Nebenwirkungen zu vermeiden, sollten während der Einnahme trizyklischer und nicht-trizyklischer Antidepressiva regelmäßig Blutbild- und Leberwertkontrollen durchgeführt werden.
2. Monoaminoxidase-Hemmer (MAO-Hemmer)
MAO-Hemmer haben ebenfalls eine antidepressive Wirkung. Wegen ihrer vielfältigen Neben- und Wechselwirkungen werden sie jedoch nur eingesetzt, wenn andere Medikamente keine Wirksamkeit gezeigt haben. MAO-Hemmer blockieren ein Enzym, das die Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin abbaut. Dadurch stehen diese Botenstoffe im Gehirn vermehrt zur Verfügung.
Man unterscheidet zwischen irreversiblen und reversiblen MAO-Hemmern. Bei den irreversiblen MAO-Hemmern kann es zu einem gefährlichen Blutdruckanstieg kommen, wenn gleichzeitig Nahrungsmittel mit der Substanz Tyramin aufgenommen werden – zum Beispiel Käse, Rotwein oder Schokolade. Daher muss während der Einnahme eine strenge Diät eingehalten werden, die wenig Tyramin enthält. Bei reversiblen MAO-Hemmern ist eine solche Diät nicht notwendig.
Weiterhin dürfen MAO-Hemmer nicht zusammen mit Alkohol, bestimmten Drogen und anderen Antidepressiva eingenommen werden, da es sonst zu einem lebensgefährlichen Serotonin-Syndrom kommen kann. Zwischen der Einnahme eines MAO-Hemmers und einem anderen Antidepressivum (z. B. SSRI oder trizyklischem Antidepressivum) muss ein Abstand von mindestens zwei bis drei Wochen eingehalten werden.
Typische Nebenwirkungen von MAO-Hemmern sind innere Unruhe, Schlafstörungen, Zittern, Mundtrockenheit und Verdauungsbeschwerden. Wie bei den trizyklischen und nicht-trizyklischen Antidepressiva sollten auch bei der Einnahme von MAO-Hemmern regelmäßig Blutbild- und Leberwertkontrollen durchgeführt werden.
Pflanzliche Wirkstoffe
Als pflanzlicher Wirkstoff zur Behandlung von Depressionen wird manchmal Johanniskraut eingesetzt. Die Inhaltsstoffe des Johanniskrauts haben ähnliche Wirkungen auf die Neurotransmitter des Gehirns wie andere Antidepressiva. In Fachkreisen ist umstritten, ob Johanniskraut bei Depressionen eine ausreichende Besserung bewirken kann. Häufig lässt sich eine Wirkung beobachten, die jedoch eher schwach ausgeprägt ist. Johanniskraut sollte daher nur bei leichten bis mittelschweren Depressionen und in ausreichend hoher Dosierung eingesetzt werden. Falls man sich für Johanniskraut entscheidet, sollte man nur auf apothekenpflichtige Präparate zurückgreifen. Wichtig ist auch, dass Johanniskraut zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten (z. B. mit der Antibabypille oder mit bestimmten AIDS-Medikamenten) führen kann. Weiterhin darf es nicht zusammen mit anderen Antidepressiva eingenommen werden. Deshalb sollte man Johanniskrautpräparate nur in Absprache mit dem Arzt einnehmen und die Einnahme beim Besuch anderer Ärzte erwähnen.
Wirkung
Über die Wirkweise von Antidepressiva bestehen viele Mythen. Richtig ist: Man weiß nicht, wie genau Antidepressiva wirken (Stand: August 2018). Aber: Aus der Forschung sind mittlerweile Modelle entstanden, die diese Frage zumindest teilweise beantworten.
Vor einigen Jahren noch war man davon überzeugt, dass ein Mangel der Botenstoffe Serotonin, Noradrenalin und Dopamin im Gehirn als Ursache einer Depression anzusehen sei. Diese Annahme wurde aus der Beobachtung abgeleitet, dass Antidepressiva einer bekannten Substanzklasse, die sogenannten Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI, Selective Serotonin Reuptake Inhibitors), die Verfügbarkeit dieses Botenstoffs an den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen im Gehirn (Synapsen) erhöhen.
Dieser Effekt tritt aber erst nach einigen Tagen bis Wochen ein. Antidepressiva sind eben keine Droge, welche die Stimmung künstlich pusht oder Ängste nimmt. Entgegen einer vielfach formulierten Annahme machen Antidepressiva übrigens auch nicht abhängig!
Wichtig ist vielmehr zu hinterfragen, was in der Zeit bis zum Wirkungseintritt im Gehirn passiert. Heute wissen wir daher, dass z.B. das erhöhte Serotoninangebot an der Gehirnzelle lediglich einen adäquaten Reiz darstellt, um Kaskaden anzustoßen. Auf der Endstrecke dieser Kaskaden sind Befunde festzustellen, die wir als neurobiologische Entsprechungen zu dem antidepressiven Effekt der Medikamente auffassen.
Was genau passiert also?
Am Beispiel eines SSRI lässt sich folgendes Modell beschreiben. Wird eine Nervenzelle erregt, transportiert sie diese Information “elektrisch”, genauer gesagt: durch Weitergabe von Spannungsänderungen an der Zellwand. Von einer zur nächsten Zelle wird die Information aber “chemisch” weitergegeben – durch Botenstoffe, z.B. Serotonin.
Den Botenstoff Serotonin vor jedem Ausschütten erneut aus der Aminosäure Tryptophan aufzubauen, wäre sehr ineffektiv. Daher haben die Zellen einen Transporter, der Serotonin wieder zurück in die ausschüttende Zelle “schaufeln” kann. Der SSRI führt dazu, dass dieser Transporter und damit die Wiederaufnahme des Serotonins blockiert wird. Hierdurch steigt die Konzentration von Serotonin im Kontaktspalt (Synapse) zwischen den Nervenzellen an.
Die “Fühlstellen”, also Rezeptoren der nächsten Zelle sind dadurch mit Botenstoff gesättigt. Die Zelle “denkt sich”, “wenn genug Serotonin da ist, brauche ich weniger Rezeptoren” und baut diese ab (“reguliert diese herunter”). Dies ist ein ganz enormer Reiz, der mit Hilfe von Systemen der Informationsweitergabe innerhalb der Nervenzelle weitergeleitet wird.
Die “Steuerzentrale” der Zelle – der Zellkern – trägt dazu bei, dass in der Folge verschiedene Kaskaden ablaufen. Auf der Endstrecke dieser Kaskaden zeigt sich, dass die Aktivität bestimmter Hirngebiete im Vorderlappen des Großhirns zunimmt, die Vernetzungsdichte der Gehirnzellen zunimmt, die Stresshormonachse sich entspannt und sogar Entzündungskaskaden beeinflusst bzw. reduziert werden.
Die Kenntnisse über Antidepressiva – aber auch alle anderen Medikamente, welche die Psyche beeinflussen (“Psychopharmaka”), kann man sich wie ein Mosaik vorstellen. Einige Aspekte kennen wir sicher, andere sind “blinde Flecken”, weitere sind teilweise erschlossen, sodass sich hierzu tragfähige Modelle entwerfen ließen.
Einnahme
Die Schwelle, ein Medikament gegen Depressionen, Angststörungen oder Zwangssymptome einzunehmen, ist heutzutage gering. Für manche Patienten ist ein Medikament essentiell, für andere aber entbehrlich, für die nächsten wiederum schädlich.
Zwei Faustformeln möchten wir Ihnen an die Hand geben, wenn Sie sich fragen, ob ein Medikament Ihnen helfen könnte:
Regel Nummer 1: Auf die Diagnose kommt es an.
Ein Antidepressivum wirkt dann besonders gut, wenn Sie auch wirklich an einer Depression leiden. Wir sehen beispielsweise immer wieder Menschen, die mit dieser Diagnose zu uns kommen, aber es sich eigentlich um depressive Symptome im Rahmen einer Persönlichkeitsstörung handelt. Auch dann können Medikamente helfen – aber nicht so effektiv.
Regel Nummer 2: Je schwerer die Symptomatik, desto wirksamer das Medikament.
Dies ist wissenschaftlich klar nachgewiesen. Bei schwerer Depression ist ein Antidepressivum definitiv wirksam und wird dringend benötigt. Bei leicht- und mittelgradiger Depression ist die Wirksamkeit über Placebo hinaus eher gering.
Übrigens: Dies gilt nicht nur für die Psychiatrie. Auch in anderen Fachbereichen der Medizin ist die Wirksamkeit der Medikation über Placebo hinaus mäßig. Ein Placebo-Effekt, also eine Scheinwirksamkeit, ist ebenfalls bei allen Medikamenten vorhanden. Die echte Wirksamkeit addiert sich hinzu – eben oftmals als kleinerer Anteil.
Welches Medikament ist das richtige?
Die Frage, welches Medikament das geeignete für Sie ist, richtet sich selbstverständlich in erster Linie nach der Diagnose. Leiden Sie z.B. an einer Depression, hat Ihr Psychiater die Qual der Wahl unter einer Vielzahl von Medikamenten.
Unerwünscht: Nebenwirkungen
Die erste Überlegung hierzu ist, welche Nebenwirkungen auf keinen Fall vorkommen dürfen. Sind Sie z.B. Diabetiker oder übergewichtig, wird Ihr Psychiater kein Medikament auswählen, das Stoffwechselstörungen oder Gewichtszunahmen begünstigt. Leiden Sie z.B. an einer Epilepsie, wird er darauf achten, keine Medikamente einzusetzen, welche die Krampfschwelle reduzieren. Und falls Sie unter Herzrhythmusstörungen leiden, wird er ein Antidepressivum auswählen, welches die sogenannte Überleitungszeit am Herzen nicht verlängert und somit für Sie als Herzpatientin gut verträglich ist.
Mittels solcher Überlegungen engt sich die Auswahl oft schon bedeutend ein. Falls wir z.B. einen Patienten untersuchen, der übergewichtig ist, eine Herzerkrankung hat und auf gar keinen Fall sexuelle Funktionsstörungen als Nebenwirkung tolerieren würde, aber auf der anderen Seite nicht besonders empfindlich gegenüber Unruhe und Schlafstörungen sein sollte, gibt es ein Präparat, was sich besonders anbieten würde.
Erwünscht: Hohe Wirksamkeit, gute Verträglichkeit
Eine andere Herangehensweise ist die folgende. Man kann die Wirksamkeit und die Verträglichkeit von Antidepressiva in Beziehung zueinander setzen. In einem solchen Diagramm sähe man eine Punktwolke. Alle Antidepressiva, die “rechts oben” in dieser Punktwolke zu sehen sind, weisen eine hohe Wirksamkeit bei zugleich guter Verträglichkeit auf. Solche Wirkstoffe sind vorzuziehen, denn wir wollen schließlich gemeinsam ein gutes Behandlungsergebnis erzielen, aber möglichst wenige Nebenwirkungen in Kauf nehmen müssen.
Was ist mit Gentest & Co.?
Die Forschung hat interessante Gentests auf den Markt gebracht, welche uns vorhersagen können, wie Ihre Leber ein Medikament verstoffwechseln wird (Stada-Gentest) oder wie gut der Übertritt eines Wirkstoffes vom Blut ins Gehirn gelingen wird (ABCB1-Gentest). Allerdings ist der praktische Nutzen noch nicht optimal. Eine Pharmakotherapie ist sehr komplex. Viele Aspekte – letztlich auch Ihre persönlichen Präferenzen – sind ernst zu nehmen und zu berücksichtigen.
Falls Ihnen von einem Medikament z.B. speiübel wird, nützt uns nichts, dass es mittels des Gentests empfohlen wurde. Auch sagen die Tests nicht viel darüber aus, wie gut ein Antidepressivum dann letztlich wirken wird. Denn dies hängt nicht nur am Leberstoffwechsel und dem Übertritt ins Gehirn (sogenannte Blut-Hirn-Schranke). Zudem kosten die Gentests Zeit – dies kann bei sehr hoher Symptombelastung nachteilhaft sein.
Statt Gentests: Auf Frühansprechen achten und das “TDM” nutzen
Mittlerweile wissen wir, dass für Sie passende und vielversprechende Antidepressiva ihre positive Wirkung früh “andeuten”, bevor die volle Wirkung einsetzt. Überdies lässt sich die Konzentration des eingesetzten antidepressiven Wirkstoffs im Blutserum messen. Wenn Sie ein Medikament einnehmen, wird die Tablette im Magen “aufgeschlossen” und der Wirkstoff im anatomisch darauf folgenden Dünndarm aufgenommen. Das wirkstoffreiche Blut wird dann aber zunächst in der Leber “gewaschen”. Die Leber gibt zwar einen Teil der “Muttersubstanz” meist wieder ab, schließt diese jedoch wiederum auch in ihre Stoffwechselbestandteile auf – sowohl antidepressiv wirksame als auch unwirksame.
Wenn wir Ihnen venöses Blut aus der Armbeuge abnehmen, hat dieses die Leber bereits passiert. Wir können dort also messen, wie hoch die antidepressiv wirksamen Substanzen in dem Anteil des Blutes konzentriert sind, welcher auch das Gehirn durchfließen wird. Somit können wir die Dosis des Antidepressivums optimieren. Dieses Vorgehen nennt sich Therapeutisches Drug Monitoring (TDM). Aus der Kombination beider Möglichkeiten – Monitoring des frühen Ansprechens auf der einen Seite und Daten aus dem TDM auf der anderen Seite – können wir rasch und flexibel Aussagen über eine geeignete antidepressive Therapie für Sie treffen.
Die Eskalation: Auf die Symptomatik kommt es an
Ein Mensch, der im Rahmen seiner psychischen Erkrankung sehr hohen Leidensdruck hat, wird medikamentös anders behandelt als jemand, der erstmalig und mit einer eher mittelgradigen Ausprägung an Symptomen zum Psychiater kommt. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, eine Pharmakotherapie rational zu gestalten. Falls diese nicht anschlagen sollte, ist ein Wechsel einmal sinnvoll, z.B. auf ein Antidepressivum mit anderem Wirkmechanismus und besonders hoher Wirksamkeit. Sollte dies trotz ausreichender Dosierung und Einnahmedauer keine Entlastung bringen, ist davon abzuraten, immer weitere Substanzen “auszuprobieren”.
In diesem Fall kann eine Kombination zweier Antidepressiva Sinn machen oder auch die Hinzunahme einer Substanz, welche die Wirkung des Antidepressivums verstärkt. Letztere Strategie nennen wir “Augmentationsbehandlung”. Ein Beispiel hierfür, welches immer noch zu den wirksamsten zählt, ist die Hinzunahme von Lithium zu einem Antidepressivum. Auch die Umstellung auf das “Reserve”-Antidepressivum Tranylcypromin (Jatrosom) kann sinnvoll sein. Dies ist individuell zu entscheiden und hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab.
In jedem Falle gilt: Wenn schon ein Medikament, dann mit guter Wirkung
Bitte keine dauerhafte Einnahme bei unzureichender Wirkung, denn wenn das Medikament dann abgesetzt oder ausgeschlichen wird, kann die Symptomatik mit hoher Wahrscheinlichkeit zurückkommen. Statt dessen ist es wichtig, konsequent zu behandeln, bis eine Remission, also ein möglichst weitgehender Rückgang der Symptomatik, erzielt ist.
Sofern die Medikation über diesen Zeitpunkt hinaus noch weiter eingenommen wird, z.B. sechs bis 24 Monate, besteht eine sehr gute Möglichkeit, dass das Gehirn ein neues Gleichgewicht gefestigt hat und das Medikament gar nicht mehr benötigt wird.
Nebenwirkungen
Eine nebenwirkungsfreie Pharmakotherapie existiert leider (noch) nicht. Jedes Medikament hat erwünschte und unerwünschte Wirkungen. Über mögliche unerwünschte Wirkungen werden Sie von Ihrem Psychiater individuell aufgeklärt. Diese sind von Medikament zu Medikament verschieden. Häufige Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Durchfall und – je nach Wirkstoff – Unruhe und Schlaflosigkeit oder das Gegenteil, nämlich Ermüdung, ein “abgedämpftes Gefühl” und ggf. auch ein Überhang am nächsten Morgen der Einnahme. Auch eine Gewichtszunahme kann vorkommen.
Die gute Nachricht: Die meisten Nebenwirkungen verschwinden nach ca. zwei bis drei Wochen, da sich der Körper auf den regelmäßig verabreichten Wirkstoff einstellt. Nicht selten beginnt die Pharmakotherapie sehr belastend, denn die Wirkung tritt erst verzögert ein, aber die Nebenwirkungen zeigen sich rasch. Hat man die ersten zwei bis drei Wochen der Therapie durchgestanden, ändert sich das Bild dramatisch. Häufig ist dann schon eine (erwünschte) Wirkung vorhanden, während die (unerwünschten) Nebenwirkungen mindestens teilweise abgeklungen oder insgesamt reduziert sind, so dass man sie tolerieren kann.
Keine Antidepressiva in der Schwangerschaft
Falls eine antidepressive Medikation während der Schwangerschaft zwingend erforderlich ist, lassen sich einige Antidepressiva eher empfehlen als andere. Aus grundsätzlichen Erwägungen sollte aber wenn möglich während der Schwangerschaft auf die Einnahme eines Antidepressivums verzichtet und auf alternative Behandlungsstrategien (z.B. Psychotherapie oder rTMS) ausgewichen werden.
Nur Mut zu einem langen Atem!
Die psychisch wirksame Pharmakotherapie ist eine komplexe Angelegenheit. Bei perfekter Anwendung dieser Behandlungsmöglichkeit können Sie als Patientin oder Patient sehr gut profitieren bei ebenfalls guter Verträglichkeit und geringem Risiko. Wie so oft kommt es auf einen guten Mittelweg an. Zu langes Warten auf die Wirkung ist nicht zielführend. Ebenso wenig raten wir jedoch zu einem nervösen, an kurzfristigen (erwünschten und unerwünschten) Wirkungen orientiertes Vorgehen.
Ein Beispiel: Falls zu Ihrer Depression oder Angststörung das Symptom Unruhe zählt, könnte diese durch ein Antidepressivum zunächst verstärkt werden. Nach einigen Wochen hat die Grunderkrankung jedoch auf die Therapie angesprochen und die Unruhe geht zurück. Hätte man von vornherein einen “sedierenden”, also beruhigenden Wirkstoff gewählt, wäre die Unruhe zwar zuvor kaschiert worden, nach Ansprechen auf die Behandlung hätten Sie dann aber im ungünstigen Falle einen Müde- und Dickmacher am Hals.
Nebenwirkungen managen
Statt sich also an kurzfristigen Wirkungen zu orientieren, sollte man die vorübergehend auftretenden Nebenwirkungen ganz einfach managen und sich an längerfristigen Zielen orientieren. Dies kann z.B. heißen, die Einführung eines Antidepressivums mit Lorazepam (Tavor) oder einem Medikament gegen Übelkeit zu flankieren.
Dies ist auch aus einem anderen Grunde ratsam. Einige Antidepressiva können während der Einführungsphase zuvor vorhandene Gedanken an Selbsttötung verstärken. Antidepressiva verursachen aber keineswegs Suizidgedanken, wie so manche Fachinformation glauben lässt. Vielmehr wird nach der Einnahme der Antrieb häufig früher stabilisiert als die Stimmung. Somit kommen zuvor gehemmte Gedanken und Impulse stärker zum Ausdruck. Auch dieses Phänomen geht im Laufe der Behandlung deutlich zurück, bedarf aber eines wachen Blickes während der Einführung der Therapie.
Kritische Diskussion
Mit über 1 Milliarde DDD (Definierte Tagesdosis) waren die Antidepressiva 2009 die mit Abstand am häufigsten ambulant verordnete Gruppe von Psychopharmaka in Deutschland.
Zur Behandlung depressiver Störungen wurden in Deutschland im Jahr 2002 etwa 4 Milliarden Euro ausgegeben (direkte Krankheitskosten). Der Anteil der Kosten für Medikamente an den gesamten direkten Kosten ist international vergleichbar und beträgt etwa 4 bis 11 Prozent.
Antidepressive Medikamente führen nicht zu Abhängigkeit. Diese Auskunft wird in allen nationalen und internationalen Leitlinien zur Depressionsbehandlung sowie von niedergelassenen Psychiatern und Ärzten, die Antidepressiva verschreiben, kommuniziert. Sie stützt sich auf die seit der Änderung im Jahr 1992 gültige Begriffsdefinition von „Abhängigkeit“ nach dem ICD-10.
Allerdings ist diese Aussage aus folgenden Gründen kritisch zu sehen:
In der Vorstellung von Patienten und Angehörige bedeutet "Abhängigkeit"i.d.R., von einer Substanz gegen den eigenen Willen nicht mehr loszukommen. Diese Gefahr ist bei Antidepressiva nicht völlig auszuschließen.
Die „Psychiatrie-Fachwelt“ versteht demgegenüber aktuell unter "Abhängigkeit" vielmehr für Sucht typische Probleme und Verhaltensweisen. Von diesen eher feinen Abstufungen weiß der Patient wenig.
Darüber hinaus kann es beim abrupten Absetzen zu Absetzsymptomen, die mit Entzugserscheinungen durchaus vergleichbar sind, kommen, so dass es sinnvoll ist, die Medikation allmählich und in Absprache mit dem Arzt zu reduzieren.
Zweckmäßiger wäre in diesem Zusammenhang eine umfassende Aufklärung der Patienten hinsichtlich der Probleme einer Antidepressiva-Therapie gleich zu Beginn in einer möglichst verständlichen Sprache: Antidepressiva verursachen eine Art körperlicher Abhängigkeit, jedoch keine Sucht. Die tatsächliche Wirksamkeit "moderner" Antidepressiva vom SSRI- oder SNRI-Typ gegen depressive Symptome ist in Fachkreisen seit Jahren nicht unumstritten.
Eine Forschergruppe der Abteilung für Psychologie an der Universität Hull in England kommt in einer Meta-Analyse über die Wirksamkeit von Antidepressiva zu dem Ergebnis, dass auch die neueren Antidepressiva „allenfalls bei sehr schweren Depressionen stärker wirken als Placebos“. Diese Meta-Analyse aus dem Jahr 2008 basiert auf 35 US-amerikanischen Zulassungsstudien aus dem Zeitraum 1989 bis 1999 für die u.a. besten derzeit verfügbaren Wirkstoffe Fluoxetin, Paroxetin (SSRI), Venlafaxin (SNRI) und Nefazodon.
Schon länger bekannt war, dass Scheinmedikamente (Placebos) bei vielen Patienten Depressionen lindern können. Neu und überraschend zeigt die Meta-Analyse aber, dass die Wirkung der Placebos „in etwa 80% der Wirkung der modernen und als leistungsstark eingestuften Medikamente entsprach.“ Eine Differenz in der Wirksamkeit ergab sich erst ab einem HRSD (Hamilton Rating Scale of Depression)-Wert von 28. Ab einem HRSD-Wert von 18 besteht eine schwere Depression und sowohl die FDA (Food and Drug Administration (USA)) als auch die NICE (National Institute for Clinical Excellence (GB)) empfehlen hier eine Behandlung mit Antidepressiva.
Ist die Wirksamkeit der untersuchten Medikamente tatsächlich nur bei sehr schweren Depressionen signifikant besser als die eines Placebo, stellt sich die Frage, ob die Medikamente nicht zu oft eingesetzt werden.
Darüber hinaus berichteten US-Forscher ebenfalls im Jahr 2008 im New England Journal of Medicine, dass Positivstudien zu Antidepressiva häufiger veröffentlicht werden als Negativstudien. Insbesondere bei Wirkstoffen wie den Antidepressiva, bei denen die Placebowirkung sehr hoch ist, könne dies sehr schnell zu falschen Empfehlungen in den Leitlinien führen, warnten die Autoren seinerzeit.
Ungeklärt ist die Frage, ob eine dauerhafte Einnahme der neueren Antidepressiva einen Schutz vor „Rückfällen“ bietet. Hierzu liefert die aktuelle Datenlage keinen eindeutigen Nachweis. Vielmehr scheint es nach den vorhandenen Studiendaten möglich, dass die dauerhafte Einnahme von SSRI-/SNRI-Antidepressiva lediglich vor Entzugs- oder Absetzungssymptomen schützt, die Depressionsneigung vielmehr chronifiziert werden oder eine Sensibilisierung gegenüber auslösenden Reizen eintreten könnte.
Antidepressiva